Václav Klaus über Deutschland (Die Welt 2004)
27.07.2004 / 13:09 | Aktualizováno: 26.02.2014 / 16:52
"Die Europäische Union ist nicht liberal" Der tschechische Staatspräsident Václav Klaus über Deutschland, den "europäischen Superstaat" und den neuen Modetrend EU-Skepsis /von Roger Köppel/ Prag - Das britische Wochenblatt "The Spectator" berichtete genüsslich von der Episode: Als
"Die Europäische Union ist nicht liberal"
Der tschechische Staatspräsident Václav Klaus über Deutschland, den "europäischen Superstaat" und den neuen Modetrend EU-Skepsis
/von Roger Köppel/
Prag - Das britische Wochenblatt "The Spectator" berichtete genüsslich von der Episode: Als in Prag am 1. Mai dieses Jahres im Beisein politischer Prominenz die Fanfaren erklangen wegen der EU-Osterweiterung, verzog sich Staatspräsident Václav Klaus mit ein paar Freunden nach Blanik in die Hügel außerhalb der Stadt. Der Fluchtpunkt war mit Bedacht gewählt. Am symbolträchtigen Ort hatte ein paar Jahrhunderte zuvor der böhmische König Wenzel seine Ritter versammelt, um der Nation beizustehen in höchster Gefahr.
Klaus, seit Februar 2003 im Amt, zuvor ein knappes Jahrzehnt
Finanz-, schließlich Premierminister, ist unter den europäischen
Staatschefs einer der prononcierten Kritiker der EU. Allerdings
gehört er nicht zur Fraktion osteuropäischer Kartoffelwerfer, die
als Idealfeindbild der EU-Befürworter durch die Medien geistern.
Klaus ist ein liberaler früherer Wirtschaftsprofessor, der geprägt
wurde durch die österreichische Schule der Nationalökonomie um
Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises. Mit diesen
Denkern, die auch Margaret Thatchers Reformpolitik in England
inspirierten, teilt er ein Misstrauen gegen den "Kult des
Kolossalen" (Wilhelm Röpke), wie er ihn in der EU angelegt sieht.
In Vorträgen gibt sich Klaus als liberaler Verteidiger des
Nationalstaats zu erkennen, nicht im Sinne der aggressiv bewehrten
Scholle, aber als tauglicher Legitimationsrahmen für die Sicherung
freiheitlicher Lebensformen. Er bezweifelt, dass Europa unter einer
einheitlichen Regierung jemals demokratisch wäre: "Ich sehe keinen
Mechanismus, der den Nationalstaat als natürliche Verfasstheit der
Völker ersetzen könnte."
Durch thatcheristisch-reagonomische Reformansätze brachte
Klaus die Tschechische Republik mit Erfolg auf Wachstumskurs. Zur
Verblüffung seiner Gegner wandte er sich im letzten Jahr mit
Vehemenz gegen den Irak-Krieg der Amerikaner. Hier sah er Energien
der Zwangsbeglückung am Werk. Im Höhepunkt der Debatte bezeichnete
er Bushs Irak-Agenda als "linkes Projekt", das ihn an ähnlich
gelagerte Bestrebungen der untergegangenen Sowjetunion erinnere.
Besonders problematisch, weil unliberal und undemokratisch, findet
er den Anspruch der Brüsseler Führungselite, durch eine gemeinsame
Sicherheits- und Außenpolitik Europa als strategische
Wertegemeinschaft mit Missionsauftrag zu verankern. Das Gespräch
wurde geführt in Klaus' Büro im Prager Präsidentenpalast.
Václav Klaus: Sie sind Schweizer? Was meinen Sie, ist Deutschland noch zu retten?
DIE WELT: Das wollte ich eigentlich Sie fragen.
Klaus: Schwierig. Vielleicht, und ich bitte Sie, das off the record zu behandeln, braucht Deutschland eine samtene Revolution. Mehr kann man nicht sagen.
DIE WELT: Was haben Sie gedacht, als Sie gehört haben, dass Präsident Chirac die Franzosen über die EU-Verfassung abstimmen lassen will?
Klaus: Ich bin der Meinung, dass wir endlich die Demokratie in der Europäischen Union verankern müssen. Dazu gehört die Möglichkeit, die Leute direkt über die wichtigen Fragen in der EU entscheiden zu lassen.
DIE WELT: Glauben Sie, dass Chirac davon ausgeht,
die Franzosen würden die Verfassung annehmen?
Klaus: Das weiß ich nicht. Chirac ist ein sehr
kluger und erfahrener Politiker. Mit dieser demonstrativen
Erklärung am Nationalfeiertag setzte er möglicherweise ein Zeichen,
dass er die Einwände im Land über die unnötig beschleunigte
Vereinigung Europas ernst nimmt.
DIE WELT: Und was war Ihr erster Gedanke nach der Lektüre der neuen EU-Verfassung?
Klaus: Meine ursprüngliche Reaktion, als man über eine Verfassung diskutierte, war 100 Prozent negativ. Ich bin der Meinung, dass eine Verfassung nur für einen Staat nötig und richtig ist, aber nicht für ein Konglomerat von Staaten. In einer zweiten Phase veränderte sich meine Haltung etwas. Wenn schon eine Verfassung, dann eine möglichst kurze und knappe Darlegung des Wegs der EU: Wohin gehen wir? Wo hören wir auf? Es könnte darum gehen, den heutigen Zustand der EU zu fixieren. Denn die größte Gefahr innerhalb der EU ist die schleichende, verdeckte Unifizierung. Es hätte theoretisch die Möglichkeit bestanden, dass durch ein EU-Verfassungsdokument diese schleichende Unifizierung abgebremst oder verhindert worden wäre.
DIE WELT: Und?
Klaus: Das ist eindeutig nicht der Fall. Dieser Text hat meine Erwartungen nicht erfüllt. Diese Verfassung ist nicht klar, sie ist nicht transparent. Die Bremsen fehlen, es öffnen sich Dämme für die EU-Bürokratie. Dieser Entwurf markiert einen Quantensprung der vertieften Integration.
DIE WELT: Für den Laien drängt sich bei der Lektüre der Eindruck auf, dass die EU-Verfassung ein unehrliches Dokument ist. Auf der einen Seite finden sich Begriffe wie Subsidiarität. Auf der anderen Seite schreitet die Machtverdichtung in Brüssel voran. Was denn nun?
Klaus: Das ist auch meine Position. Das Wort Subsidiarität ist von den Eurofanatikern, den Europhilen wie eine Angriffswaffe geführt worden. Man hat gefochten mit diesem Wort. Aber dieses Wort entbehrt jeglichen Inhalts. Es bedeutet nichts. Es definiert nichts. Es ist inhaltsleer. Sie können alle möglichen Gedanken und Haltungen in diesem Begriff unterbringen. Sollen wir eine gemeinsame Außenpolitik haben, ja oder nein? Die Verfechter der Subsidiarität würden beiden Positionen applaudieren. Wer das Wort Subsidiarität verwendet, redet Unsinn. Ich höre schon gar nicht mehr zu.
DIE WELT: Die EU wird von ihren Befürwortern als
Instrument der Entkrustung, der wirtschaftlichen Deregulierung
gesehen. Sie helfe den Staaten bei der Lösung der
Reform-Hausaufgaben.
Klaus: Die Europäische Union ist nicht liberal.
Ich bin im Gegenteil der Meinung, dass wir die EU erst
liberalisieren müssen. Europa braucht wieder eine Transformation
der gesellschaftlichen Ordnung. Das ist die Aufgabe unserer
Zeit.
DIE WELT: Sind Sie optimistisch?
Klaus: Lassen Sie mich zuerst den anderen Punkt beenden. Ich bin nicht so sicher, wer liberaler ist, der Superstaat EU oder die einzelnen Mitgliedsstaaten. Natürlich sind manche EU-Politiker auf Grund ihrer enormen Distanz zum Wähler in der Lage, Programme durchzusetzen, die auf nationaler Ebene blockiert würden. Sie können in den demokratieschwachen EU-Strukturen sogar Liberalisierungen durchdrücken, also Projekte, die mir inhaltlich sympathisch wären. Trotzdem bin ich dagegen. Warum? Weil es grundsätzlich falsch ist, mit Demokratiedefiziten am Wähler vorbei zu operieren. Ich bin ein klassischer Liberaler. Ich bin der Meinung, dass politische Konzepte von den Wünschen, Überlegungen und Überzeugungen der Bürger ausgehen müssen, nicht von den apriorischen Abstraktionen der Bürokraten, der Richter und der Politiker.
DIE WELT: Mit anderen Worten: Sie halten die EU für einen Grundlagenirrtum.
Klaus: (lächelt) Ich bevorzuge zu sagen, dass die Europäische Union eine Konstruktion der Postdemokratie im klassischen Sinne ist.
DIE WELT: Würden Sie so weit gehen wie einige britische Kritiker, die sagen, die EU und die verblichene UdSSR seien sich darin ähnlich, dass es sich um zwei Staatsgebilde handle, denen ein Volk und damit die politische Legitimierung fehle?
Klaus: Ich halte nichts von solchen Vergleichen. Man sollte die alten Kriege heute nicht mehr führen. Der Streit um die Zukunft der Menschheit wird nicht mehr gegen den Kommunismus ausgefochten. Der Streit kreist heute um die Frage, ob wir ein demokratisches oder ein postdemokratisches Europa konstruieren.
DIE WELT: Sie haben die EU als sozialistisches Projekt bezeichnet.
Klaus: Man kann diese Frage nicht mit einem Satz erledigen. Aber lassen Sie es mich so sagen: Ich sehe in der heutigen Konstruktion der EU mehr Zentralismus, mehr Dirigismus, mehr Interventionismus, als ich es für vernünftig und effektiv halte. So gesehen steht die EU eindeutig links von mir. Aber der Vergleich mit dem Kommunismus ist frivol.
DIE WELT: Sie sind ein Verfechter der liberalen ökonomischen, staatsskeptischen Schule um Hayek, von Mises, Röpke. Wenn Sie mit anderen europäischen Politikerkollegen sprechen über die Liberalismus- und Demokratiedefizite der EU, was stellen Sie fest?
Klaus: Die EU-Debatte hat für viele führende europäische Staatsmänner zweite Priorität. Sie verstehen zu wenig davon. Im Wesentlichen wird der Einigungsprozess von Beamten, Beratern und Wissenschaftlern geprägt. Ich halte das für gefährlich. Ich war kürzlich in Istanbul beim Nato-Gipfel. Es handelte sich nicht um die EU, aber es ist strukturell vergleichbar. Die Experten bereiten Dokumente vor. Die Experten stehen auf der Ebene von Vizeministern. Sie präsentieren während Stunden ihre Dokumente. Dann folgt eine vorbereitete Rede des Vorsitzenden. Alle Anwesenden schauen auf die Uhr, wollen Mittagessen gehen. Eine inhaltliche Debatte findet nicht statt. Der Vorsitzende verlangt, man solle noch das Kommuniqué verabschieden, das die Beschlüsse festhält. Und jetzt kommt der entscheidende Punkt: Es gibt keine Abstimmung über den Inhalt des Schlussdokuments. Es gibt keine grundsätzliche Diskussion, wer ist dafür, wer ist dagegen. Spürbar im Raum ist die Angst der Politiker, in eine Debatte mit den Experten einzusteigen. Was dann verabschiedet wird, ist nicht das Resultat eines demokratischen Prozesses. Das ist etwas konzeptionell grundlegend anderes als Demokratie. Das ist das Problem Europas.
DIE WELT: Sie haben viel Kritik einstecken müssen wegen Ihrer EU-skeptischen Haltung. Der Vorwurf des Populismus wurde laut. Wie erklären Sie sich die enorme moralistische Energie, die hinter dem Brüsseler Projekt steht?
Klaus: Ich bin sicher, dass der Anteil der Kritiker und der Leute, die ähnliche Positionen haben wie ich, viel größer ist, als ein Blick in die Zeitungen und auf den politischen Betrieb erwarten lässt. Die schweigende Mehrheit sieht die EU kritisch. Ich bin überzeugt, dass auch der Trend vorteilhaft ist für meine Position. Mehr und mehr Leute werden ehrliche Fragen an die EU richten. Möglicherweise wird die EU-Skepsis zu einem neuen Modetrend in Europa. Diese opportunistische Position würde mir nicht behagen.