SZ: "Die größte Gefahr für Europa ist Europa selbst"
23.05.2007 / 11:17 | Aktualizováno:
Tschechien ist in der Nato und der Europäischen Union gut aufgehoben, sagt Vaclav Havel. Erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 28.4. 2007.
Tschechien ist in der Nato und der Europäischen Union gut
aufgehoben, sagt Vaclav Havel. In einem Interview mit der
Süddeutschen Zeitung plädiert der frühere tschechische
Staatspräsident nachdrücklich dafür, dass sich sein Land am
geplanten Raketenschirm der USA beteiligt und äußert sich
beunruhigt über die innere Entwicklung in Russland. Eine neue
Verfassung für die EU müsse so einfach und klar sein, dass die
Kinder sie in der Schule auswendig lernen könnten. Das
deutsch-tschechische Verhältnis empfindet Havel als "sehr gut".
Interview: Klaus Brill, Hans Werner Kilz
Großes Interview mit dem Staatspräsidenten der Tschechischen Republik a.D. Václav Havel, erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 28.4. 2007.
SZ:
Sie sind zwar nicht mehr Präsident, aber immer noch politisch aktiv. Sie kämpfen zum Beispiel für die Menschenrechte in Kuba. Ist das ein Erbe aus Ihrer eigenen Zeit als Dissident?
Havel: Ja. Ich habe mir gedacht: Wenn meine Präsidentschaft endet, dann kehre ich ganz einfach zum Theater zurück, ich werde Essays und Theaterstücke schreiben und ausruhen, reisen und lesen. Das erwies sich als eine vollständige Illusion. Ich bin einfach aus früheren Zeiten so vielfältig engagiert, und das sind eben Dinge einer bestimmten Art, denen ich mich widmen muss. Zwar kehre ich allmählich zum Theater zurück, zwar bemühe ich mich, viele der mannigfaltigsten Einladungen von mir fernzuhalten, ich bekomme eine Menge, und man kann das nicht alles schaffen. Aber eine gewisse Zahl von Verpflichtungen ist mir geblieben, und damit bin ich einverstanden. In jedem Fall möchte ich aber kein Kommentator des politischen Tagesgeschehens in unserer Republik sein.
SZ: In Kuba geht die Zeit von Fidel Castro zu Ende. Bedeutet das auch einen Wechsel des Regimes?
Havel: Es wäre verfehlt, die Dinge an einzelnen Personen festzumachen und zu glauben, dass alles gelöst ist, wenn Castro geht. Es kann durchaus passieren, dass ein Militärregime noch schlimmer wird als das von Castro. Hier geht es nicht um die Person, die ein Diktator ist, sondern es geht um das Prinzip. Was dort für ein System herrscht, wie man umgeht mit den Menschen, das ist wichtig. Es geht um die Verhältnisse und darum, ob im Land tatsächlich eine Demokratie geboren wird oder im Gegenteil die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, ungeachtet dessen, wer in der Staatsführung ist. Es kann passieren, dass der Bruder Castros der Schirmherr einer bestimmten Lockerung nach Art der Perestrojka wird. Doch genauso kann es passieren, dass er ein noch grausamerer Diktator sein wird. Aber man sollte es, wie ich sage, nicht verknüpfen mit einzelnen Menschen, sondern eher mit einer Analyse der Verhältnisse und mit den Werten und Idealen, um die es geht. In jedem Fall würde ich großen Wert auf die Stimme der Dissidenten legen. Sie wissen das besser als wir, die wir die Verhältnisse aus der Ferne sehen.
Eine beunruhigende Entwicklung in Russland
SZ: Auch in Europa gibt es noch ein ähnliches Regime, in Weißrussland. Wie lange dauert es, bis das Land einen ebensolchen Weg nimmt wie die Ukraine?
Havel: In Weißrussland hat sich ein besonderer Typ von autoritärem Regime entwickelt. Ich verfolge das seit langem, und mit den weißrussischen Oppositionellen treffe ich mich regelmäßig. Alexander Milinkiewitsch zum Beispiel war auf unserer Konferenz "Forum 2000", die wir jedes Jahr veranstalten. In Weißrussland existiert einfach der Wille zur Freiheit, vor allem unter jungen Leuten, unter Studenten. Es gibt dort große Demonstrationen, sie werden hart unterdrückt und ich würde nicht wagen abzuschätzen, was dort passiert. Aber auf lange Sicht kann ich mir nicht vorstellen, dass dieser Typ des autoritären Regimes ewig dauern kann. Selbstverständlich hängt das stark von der Entwicklung in Russland ab, weil neben der demokratischen und freien Ukraine und neben einem tatsächlich demokratischen und freien Russland eine solche Enklave der Diktatur kaum überleben könnte.
SZ: Wie entwickelt sich Russland? Sorgen Sie sich um den Abbau der demokratischen Rechte und Institutionen dort?
Havel: In Russland geschieht eine sehr seltsame und beunruhigende Entwicklung, als würde hier eine Art neuer Typ eines postkommunistischen autoritären Systems geboren, das neue, raffiniertere Methoden anwendet als jene, die wir aus dem Kommunismus erinnern. Wir müssen das sehr aufmerksam verfolgen und vor allem offen sagen, was wir darüber denken. Das Bestreben, gute Beziehungen zu diesem mächtigen Staat zu haben, darf nicht dazu führen, dass wir vor verschiedenen Dingen, die dort passieren, die Augen verschließen. Freundschaftliche Beziehungen bedeuten, dass sich die Freunde die Wahrheit offen ins Gesicht sagen. Übrigens ist gerade Präsident Jelzin beerdigt worden. Wenn wir damals nicht Jelzin, sondern gleich Putin gehabt hätten, dann hätten sich die EU und die Nato nicht erweitert.
SZ: Heute geht es um vergleichbare Fragen. Russland wehrt sich vehement gegen die Pläne der USA, in Polen Raketen und in Tschechien eine Radarstation zu installieren. Was ist Ihre Meinung?
Havel: Ich bin eindeutig der Meinung, dass dieser Radar bei uns zu stehen hat. Ich habe eine ganze Reihe von Gründen dafür. Mir scheint, dass das Projekt zu einer Festigung der Sicherheit beiträgt. Unser Land ist zwar Mitglied der Nato-Allianz, was unter dem Aspekt der Sicherheit sehr gut ist, aber es ist sicherheitsmäßig noch nicht völlig verankert. Das Projekt Radarschirm ist für die Sicherheit des Staates sehr gut, es ist ein sehr guter Schutz gegen mögliche Bedrohungen. Überdies kostet es uns nichts, und es stärkt die tschechisch-amerikanischen Beziehungen. Es ist immer gut, wenn Amerika ein bisschen in Europa verankert ist. Denn die größte Gefahr für Europa ist Europa selbst. Seien wir uns immer dessen bewusst, welche Weltkriege hier in Europa ausgebrochen sind, und die Amerikaner haben dann immer die Situation gerettet. Mir scheint, dass deren Anwesenheit im ganzen auch für Europa gut ist, zumal wenn es um Systeme geht, die durch und durch der Verteidigung und nicht dem Angriff dienen.
SZ: Aber es gibt in Tschechien starken Widerstand dagegen.
Havel: Wenn sich heute bei uns Stimmen dagegen erheben, sind das durchaus unglaubwürdige und heuchlerische Stimmen, weil im vorgesehenen Stationierungsgebiet 20 Jahre lang ganze Divisionen ausländischer Truppen eines totalitären Staates standen, und niemand hat einen Laut von sich gegeben. Und wenn die Menschen Freiheit haben, dann beginnen sie zu meckern gegen eine Radarkugel im Brdy-Gebirge. Mir kommt das so tschechisch-kleinkariert vor, so heuchlerisch und miefig. Jeder möchte jetzt darüber reden, ob diese Raketen auch die anderen Raketen treffen, die sie treffen sollen, und wieviel das die Steuerzahler kostet und ob dieses ganze System nicht überflüssig ist. Sie machen sich Sorgen, ohne dafür auch nur eine Krone zahlen zu müssen. Dieses System wird jetzt seit 15 Jahren entwickelt, und wenn die Amerikaner dafür ihre Milliarden ausgeben, dann hat das ja wohl Hand und Fuß. Aber mehr als diese fachliche Seite interessiert mich die moralische Seite dieser tschechischen Haltung, dieser Tradition - ob wir die sein werden, die immer abwarten, wie eine Sache ausgeht, oder ob wir uns an einer gemeinsamen Sicherheit und Verteidigung beteiligen wollen. Und interessanterweise bringen einige Politiker das halbgare Argument vor, sie würden zustimmen, wenn das Radar ein Bestandteil der Streitkräfte der Allianz wäre. Es sei aber nur eine bilaterale Angelegenheit, sodass sie nicht zustimmen könnten. Nun, das ist eine technische Sache, dass das derzeit ins Nato-System nicht eingegliedert werden kann. Aber vor allem amüsiert mich, dass das Leute sagen und sich auf die Nato hinausreden, die früher gegen unsere Mitgliedschaft waren. Und jetzt ist sie ihnen wieder recht.
"Morde an Journalisten müssen offen angesprochen
werden"
SZ: Die Europäer sind im Moment sehr bemüht, die Russen bei Laune zu halten in dieser Angelegenheit. Halten Sie diese Rücksichtnahme für übertrieben?
Havel: Ein freundlicher Umgang ist nie ein Fehler, aber man darf nicht lügen. Man darf es nicht verbergen, wenn einen Morde an Journalisten und solche verschiedenartigen merkwürdigen Dinge beunruhigen. Das ist etwas, das man offen ansprechen muss, wenn auch mit menschlichem Gesicht. Und da wäre vielleicht zu sagen, dass es zwar nett ist, wie wunderbar sich Bundeskanzler Schröder mit den Putins angefreundet hat, aber ich gestehe gleichzeitig, dass mir Bedenken kommen wegen der Rohrleitung durch die Ostsee, die Polen umgehen soll. Das kann in diesem ganzen Teil Europas Unruhe hervorrufen oder zumindest zur Unruhe beitragen.
SZ: Sie haben vor dem Irak-Krieg sehr stark auf die amerikanische Karte gesetzt. Es gab da einen Brief von acht Staats- und Regierungschefs, die sich im Gegensatz zu ihren Kollegen in den anderen Ländern Europas für den Krieg aussprachen. Das hat Irritationen hervorgerufen. Haben Sie heute eine andere Haltung zum Irak-Krieg als damals?
Havel: Prinzipiell habe ich immer den Sturz Saddam Husseins gebilligt. Man kann nicht endlos zusehen, wie jemand in unserer Nähe Völkermord begeht. Hier stellt der Mensch irgendwie einen höheren Wert dar als die staatliche Souveränität. Also war ich nicht gegen den Einsatz an sich. Alle anderen Zusammenhänge hielt ich für unglücklich: das Timing, die ungenügende Vorbereitung und eine unzureichende Vorstellung davon, was nach dieser Invasion passiert, und so weiter. All diese Einwände habe ich rechtzeitig Herrn Präsident Bush vorgebracht, ich bin also kein General, der nach der Schlacht klüger ist. Aber damals, als es hieß: entweder - oder, da schien es mir richtig, dass wir auf der Seite unserer Alliierten stehen. Ich habe es eher als eine Demonstration der Zusammengehörigkeit im Bündnis betrachtet und weniger als eine Identifikation mit diesem Unternehmen, das tatsächlich nicht gut durchgeführt wurde und vor allem nicht gut begründet war. Es wurde mit etwas ganz anderem begründet als dem, worin zumindest ich persönlich den richtigen Grund sehe.
SZ: Man hat teilweise den Repräsentanten der acht Länder vorgeworfen, dass sie einen Keil ansetzen. Rumsfeld hat das ausgenutzt und hat vom alten und vom neuen Europa geredet. Die Gefahr sehen Sie nicht, dass man mit solch einer Aktion die Europäische Union torpediert?
Havel: Ich habe den Eindruck, es geht nicht um einen Keil zwischen den alten und den neuen Mitgliedsländern, sondern um einen möglichen Keil zwischen Amerika und Europa. Dass der getrieben wird, das sollte verhindert werden. Vielleicht sind die neuen EU-Länder mit ihrer ganzen totalitären Erfahrung tatsächlich stärker proamerikanisch als die alten Demokratien mit ihrer anderen historischen Erfahrung.
"Europa hat Integration nachzuholen"
SZ: Europas Einheit und Europas Unterschiede sind auch heute ein großes aktuelles Thema. Die Tschechische Republik und Ihr Nachfolger Vaclav Klaus spielen dabei eine besondere Rolle. Die Tschechen gelten als Euro-Skeptiker.
Havel: Die Äußerungen meines Nachfolgers werde ich weder analysieren noch kommentieren. Für mich würde ich sagen, dass Europa ein großes Ziel vor sich hat. Es muss sich selbst wieder als eine politische, geistige Entität verstehen, gestützt auf Geschichte, Traditionen und Werte. Es darf nicht nur irgendein Zollverbund sein, das ganze Thema darf nicht zu einer kommerziellen, bürokratischen, ökonomischen Sache zusammenschrumpfen. Mir scheint, dass das einfach künftig die Hauptaufgabe ist, die vor Europa liegt: sich seiner eigenen Verantwortung in der gegenwärtigen globalen Welt bewusst zu werden, seiner Verantwortung gegenüber dem Planeten. Europa hat, was die Integration angeht, noch etwas nachzuholen. Und was die Position der Tschechischen Republik angeht, so ist die Haltung der Regierung und des Parlaments entscheidend.
SZ: Aber Sie werden eine Meinung dazu haben. Tschechien hat den Vertrag über eine neue EU-Verfassung nicht ratifiziert, 18 andere Mitgliedsstaaten haben ihn schon ratifiziert. Wie stellen Sie sich Europa in zehn Jahren vor?
Havel: Ich bin in jedem Fall ein großer
Befürworter des Integrationsprozesses. Er müsste sogar noch tiefer
gehen. Ich fürchte überhaupt nicht um die nationale Identität.
Ihrer kann sich nur derjenige nicht sicher sein, der in sich selber
diese Unsicherheit hat. Das liegt in der Hand jedes einzelnen von
uns. Und ob wir das Land mit globalen Industriezonen verunreinigen
oder ob wir unsere Landschaft ein bisschen wertschätzen, das liegt
ausschließlich in unserer Hand. Die Schuld dafür auf die
Europäische Union abzuschieben, ist Unsinn. Die EU bedroht unsere
Identität nicht, und ich bin für die Vertiefung der Union. Ich bin
für eine föderalistische, kurze, bündige, verständliche, in schöner
Sprache geschriebene Verfassung. Das ist eine Aufgabe für zehn,
fünfzehn Jahre, in der Zwischenzeit löst sich das irgendwie. Alles
Weitere sollte in den Anhang der Verfassung. Ich stelle mir eine
Verfassung vor, die die Kinder in der Schule auswendig lernen und
die sie dann erinnern wie die Kinder in Amerika.
"Ich bin kein Europa-Fanatiker"
SZ: In Ihrem neuen Buch sagen Sie, Sie seien nicht gerade ein "Europabegeisterter'".
Havel: Ich habe vielleicht eher gesagt, dass ich kein Europa-Fanatiker bin. Ich bin mir in der letzten Zeit immer mehr bewusst geworden, dass eine der größten Gefahren für das Menschengeschlecht die Besessenheit ist. Ich kämpfe gegen jede Besessenheit. Und das bezieht sich auch auf die tschechisch-deutschen Beziehungen. Wir können verschiedene Ansichten über die europäische Verfassung und zu dem haben, was in ihr drinstehen soll und was nicht. Aber es ist nötig, darüber in Ruhe zu reden, den Überblick zu bewahren und nicht ein Gefangener irgendeiner Besessenheit zu sein.
SZ: Sie haben sich vom Beginn Ihrer Amtszeit an für ein besseres Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen eingesetzt. Wie sind Sie heute zufrieden mit dieser Nachbarschaft?
Havel: Mir scheinen die Beziehungen sehr gut zu sein und hoffen wir, dass sie auch gut bleiben. Dazu trägt auch die gemeinsame Mitgliedschaft in der EU bei. Wir haben in der Union gemeinsame Interessen, gemeinsame Themen, gemeinsame Probleme. Wir haben vielleicht in einigen Dingen unterschiedliche Ansichten, aber wir haben den guten Willen, darüber eine Diskussion zu führen. Unsere Beziehungen sollten auf eine uneingeschränkte Aufrichtigkeit gegründet sein. Die Zeit der ewigen Entschuldigungen, in der sich die einen bei den anderen für die Taten ihrer Urgroßväter entschuldigen, ist vielleicht vorbei. Eher ist jetzt die Zeit einer sachlichen, gelassenen Reflexion dieser Vergangenheit gekommen. Bei uns ist in letzter Zeit eine Unzahl von Sachbüchern über die Geschichte der tschechisch-deutschen Beziehungen, über die Aussiedlung herausgekommen. Ich sehe das sehr optimistisch. Ich habe auf diesem Gebiet keine große Sorge.
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