FAZ: „Die Stimmengewichtung ist nicht entscheidend“
21.06.2007 / 16:43 | Aktualizováno:
Der tschechische Präsident Václav Klaus spricht im Interview mit der F.A.Z. über den Mangel an Freiheit in der Europäischen Union, die Reform der Gemeinschaft und die amerikanischen Pläne eines Raketenabwehrsystems auf tschechischem Boden. Erschienen in Frankfurter Allgemeine Zeitung am 20.6. 2007.
Der tschechische Präsident Václav Klaus spricht im Interview mit der F.A.Z. über den Mangel an Freiheit in der Europäischen Union, die Reform der Gemeinschaft und die amerikanischen Pläne eines Raketenabwehrsystems auf tschechischem Boden.
Interview mit dem Staatspräsidenten der Tschechischen Republik Václav Klaus führte Karl-Peter Schwarz. , erschienen in der Frankfurter Allgemeine Zeitung am 28.4. 2007.
Herr Präsident, Ihr Ministerpräsident und Ihr Außenminister
äußern sich optimistisch über die Erfolgsaussichten des EU-Gipfels
in Brüssel. Sie scheinen da eher skeptisch zu sein. Zuletzt
sprachen Sie von der Gefahr, dass die Gegner eines europäischen
Einheitsstaates einen Pyrrhus-Sieg erringen könnten.
Ich fürchte, dass die Ergebnisse, die der EU-Gipfel
den Europäern bringt, nicht positiv ausfallen werden.
Wahrscheinlich wird es kosmetische Veränderungen des ursprünglichen
Textes der europäischen Verfassung geben, aber die Aussichten sind
nicht gut.
Sie hatten doch noch vor wenigen Wochen ein Treffen mit
Bundeskanzlerin Merkel und Roman Herzog zum Thema der europäischen
Verfassung, das sehr gut verlaufen sein soll?
Damals, im April, war das noch anders. Es war mitten in der
deutschen Präsidentschaft und Frau Merkel hatte schon drei Monate
lang mit Politikern der verschiedenen Länder gesprochen. Dieses
Gespräch war schon anders als jenes bei dem Abendessen, das wir mit
ihr im Januar in Prag hatten. Sie war viel pragmatischer, sie hatte
meiner Meinung nach auch etwas aus all diesen Gesprächen gelernt,
und sie war relativ flexibel. Jetzt sehe ich wieder eine Wende, und
diese Wende hängt ganz klar mit der Wahl Sarkozys zum französischen
Präsidenten zusammen. Das hat eine völlig neue Lage geschaffen.
Auch im Falle eines Sieges der sozialistischen Kandidatin
hätte sich die französische Haltung zur Verfassung kaum
geändert.
Die Haltung ist eine Sache, persönliche Stärke, man könnte
auch von Druck sprechen, ist etwas anderes. Ich halte den neuen
französischen Präsidenten in dieser Angelegenheit für sehr
ambitioniert.
Sie erwarten also eine Stärkung der deutsch-französischen
Achse in der Europäischen Union?
"Achse" ist mir zu journalistisch, das gehört nicht zu meiner
Terminologie. Aber es ist deutlich zu sehen, dass diese beiden
Länder stärker zusammenarbeiten.
Welche Meinung haben Sie zu der Debatte mit Polen um die
Stimmenverteilung in der Union? Ist das die entscheidende
Frage?
Für mich ist das nicht die entscheidende Frage, das muss ich
ganz klar und deutlich sagen. Die gegenwärtige europäische Debatte
hat zwei Dimensionen. Die horizontale Achse ist die
Stimmenverteilung zwischen den verschiedenen Ländern Europas. Das
ist wichtig, und es ist ganz klar, dass die kleineren Länder Angst
haben, marginalisiert zu werden. Aber das ist trotzdem nicht die
wichtigste Frage in der europäischen Debatte. Viel wichtiger ist
die vertikale Achse, weil sie auf der einen Seite die Freiheit der
Individuen betrifft, auf der anderen Seite die Obrigkeit. Ob diese
Obrigkeit nun staatlich oder kontinental ist, ist fast irrelevant.
Die vertikale Achse ist für mich viel wichtiger, das sage ich als
einer, der fünfzig Jahre seines Lebens im Kommunismus verbracht
hat. Ich fürchte aber, dass in Brüssel nur über die horizontale
Achse diskutiert werden wird, und das wäre ein Verlust. Man
kritisiert manchmal demokratische Defizite der EU, aber man muss es
schärfer sagen. Ich rede nicht über demokratische Defizite, ich
rede über Freiheit.
Freiheit ist doch nicht nur durch die hohe
Regulierungsdichte auf der multinationalen Ebene bedroht, das
schafft auch nationales Regelwerk.
Ohne Zweifel kann man darüber diskutieren, ob nationale
Regulierungen besser oder schlechter sind als kontinentale. Das
kann einmal so oder so sein. Aber die wichtigere Frage für mich ist
die Nähe der Bürger zu den Regierenden. Die Hypothese, dass es umso
besser sei, je näher die Bürger ihren politischen Repräsentanten
sind, hat die Geschichte wohl mehrfach bestätigt. Es ist viel
leichter, die Dinge im Kleinen zu ändern als im Großen. Wahlen in
Deutschland, in Frankreich und in der Tschechischen Republik können
die Dinge wesentlich ändern, bei den EU-Wahlen ist das anders. Die
Chancen, die Dinge in der EU zu ändern, sind nahezu aussichtslos.
Beharrungsvermögen und Rigidität sind dort fast absolut.
Sie haben vor kurzem geschrieben, dass das parlamentarische
Mehrheitsprinzip nicht auf die internationale Ebene und auf
multinationale Zusammenschlüsse übertragen werden darf. Sie sind
grundsätzlich gegen Mehrheitsentscheidungen auf europäischer
Ebene?
Ja, das ist korrekt. Ich bin zwar pragmatisch genug, um
Mehrheitsentscheidungen in untergeordneten Fragen akzeptieren zu
können, aber in allen ernsten Fragen bin ich immer für
Einstimmigkeit.
Dagegen wird eingewendet, dass eine erweiterte Union ohne
Mehrheitsentscheide die politische Lähmung riskiert.
Dieses Argument halte ich nicht für gültig. Ich war oft genug
auf europäischen Konferenzen und weiß, dass wir immer einen
Kompromiss finden müssen. Mit einer Mehrheitsentscheidung aber kann
ein Kompromiss nicht erreicht werden, das ist doch genau das
Gegenteil eines Kompromisses, das ist der Verzicht darauf. Wer
immer über Mehrheitsentscheidungen spricht, angeblich aus
pragmatischen Gründen, ist in Wirklichkeit gegen Kompromisse. Im
Verhältnis zwischen Staaten müssen aber Kompromisse gesucht werden,
da kann man nicht eine Mehrheit erzwingen.
Selbst bei den Vereinten Nationen gibt es
Abstimmungen.
Die Frage ist, ob wir, nämlich die Völker Europas, solche
Mehrheitsentscheidungen wirklich wollen und brauchen. Wir brauchen
erzwungene Lösungen wirklich nicht. Die Menschen in Europa brauchen
Kompromisse und sie akzeptieren sie auch. Abstimmungen brauchen die
Spitzenpolitiker und besonders die europäischen Bürokraten, die
brauchen schnelle Entscheidungen auf Mehrheitsgrundlage. Aber doch
nicht die Leute in Europa. Die brauchen keine Mehrheitsposition zu
Nordkorea oder Israel.
Soll die Tschechische Republik hier also nötigenfalls ein
Veto einlegen?
Ich dirigiere nicht die Tschechische Republik. Meine Position
ist gewiss schärfer als die der Regierung, andererseits aber waren
die außenpolitischen Positionen des Präsidenten und der Regierung
einander noch nie so nahe wie jetzt, viel näher als in all den
Jahren nach der Wende.
Das scheint ja auch bei der Errichtung der Leitzentrale des
amerikanischen Raketenabwehrschildes auf tschechischem Territorium
der Fall zu sein. Der slowakische Ministerpräsident Fico zum
Beispiel meint jedoch, dass darüber nicht allein Washington, Prag
und Warschau entscheiden dürften, weil es um die Sicherheit aller
gehe.
Hoffentlich leben wir noch in der Ära der unabhängigen
Staaten und nicht in einer "post-staatlichen" Epoche. Wir selbst
müssen entscheiden, ob wir diese sicherheits- und außenpolitische
Investition machen wollen oder nicht. Das ist nicht die
Angelegenheit der Slowakei, wobei ich hinzufügen möchte, dass
unsere zwischenstaatlichen Beziehungen perfekt sind. Wenn das
System in der Slowakei und in Ungarn errichtet werden würde, hätte
ich gewiss nie den Ehrgeiz, den Slowaken und den Ungarn
Vorschriften zu machen. Eine ganz andere Frage ist, ob es besser
wäre, das Abwehrsystem multilateral auf Nato-Ebene zu errichten.
Das wäre wahrscheinlich besser, aber das entspricht nicht der
Realität. Deshalb ist das nun eine tschechische und eine polnische
Entscheidung.
Liegt der Tschechischen Republik sonderlich an einem
innigen Verhältnis zu Amerika, um ein deutsch-französisches oder
deutsch-russisches Übergewicht auszutarieren?
Es geht nicht um ein Gegengewicht zu einer
deutsch-französischen oder einer eventuellen deutsch-russischen
Zusammenarbeit. Für uns ist das Bündnis mit Amerika das zweite
Standbein unserer Außenpolitik, neben jenem der Europäischen Union.
Die Amerikaner haben das Sprichwort: "Don't put all your eggs in
one basket." Für uns ist die transatlantische Partnerschaft
gewissermaßen der zweite Korb, neben der EU.
Was sagen Sie zu Äußerungen sozialdemokratischer Politiker
in Deutschland, die Äquidistanz zu Washington und Moskau
fordern?
Eine solche Haltung ist mir unverständlich. Für mich deutet
sie jedoch auf gewisse Ambitionen in Deutschland hin. In einem Land
wie der Tschechischen Republik klingt so etwas völlig
irrational.
Haben Sie Verständnis für die Befürchtungen, die in
Russland in Hinblick auf das Raketenabwehrprogramm geäußert
wurden?
Es ist jedenfalls nicht nur ein Spiel, das die Russen
spielen. Das haben mir meine Gespräche mit Präsident Putin in
Moskau bestätigt. Befürchtungen dieser Art haben ja einen
vernünftigen Kern, ich verstehe auch die Befürchtungen der Mehrheit
der tschechischen Bürger, man kann sie nicht einfach vom Tisch
wischen. Ich kann auch den Russen nicht ihre Befürchtungen
verbieten.
Aber Sie könnten sie entkräften...
Ich habe mich bemüht, das den russischen Politikern zu
erklären, aber leider hatte ich damit keinen Erfolg.
Text: F.A.Z.