dpa: «Wir wurden demoralisiert»
30.10.2007 / 16:42 | Aktualizováno:
Tschechiens Saatspräsident a.D. Václav Havel zieht Bilanz für die Deutsche Presse-Agentur und warnt: «Deutschland darf Polen nicht vergessen». Erschienen am 25.10.2007.
Tschechiens Saatspräsident a.D. Václav Havel zieht im Interview für die Deutsche Presse-Agentur eine Bilanz und warnt: «Deutschland darf Polen nicht vergessen» (dpa-Interview - Wortlaut)
Prag (dpa) - Vom Staatsfeind Nummer Eins zum Märchenprinz der Samtenen Revolution: Rund 13 Jahre lang, von Dezember 1989 bis Februar 2003, lenkte der tschechische Dramatiker Vaclav Havel als «Dichterpräsident» die Geschicke seines Landes. Davor saß der am 5. Oktober 1936 geborene Prager als Gegner des sozialistischen Regimes rund fünf Jahre im Gefängnis und wurde parallel mit Theaterstücken wie «Die Vanek-Trilogie» international bekannt. Noch immer gilt er als moralische Instanz. In einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur dpa spricht Havel über sein Verhältnis zu Deutschland sowie über Menschenrechte und die Lehren aus dem 11. September 2001.
Interview mit dem Staatspräsidenten der Tschechischen Republik a.D. Václav Havel führte Wolfgang Jung. , erschienen in der Deutschen Presse Agentur am 25.10. 2007.
Sie fragen sich in Ihrer jüngst veröffentlichten Autobiografie
«Fassen Sie sich bitte kurz», ob Sie Ihr Leben «gewonnen oder
verloren» haben. Wie ist der Stand am heutigen Tag?
Havel: «Schwer zu sagen. Einerseits wurde ich durch die
Bewegungen der Geschichte in interessante Situationen geworfen und
hatte die
Möglichkeit, das Geschehen auf der Welt zu beeinflussen. Das
war ein großes Geschenk. Vor allem, weil es meistens zu einem guten
Ende
geführt hat. Andererseits gibt es tausend Dinge, mit denen
ich wohl nie zufrieden sein werde. Aber diese Zweifel kennt wohl
jeder. Das
ist auf der anderen Seite ein Motor zu einer besseren
Leistung.»
Ist die «Nach-Präsidentenzeit» so, wie Sie es sich vorgestellt haben?
Havel: «Leider nein. Es hat sich gezeigt, dass "Ehemaliges
Staatsoberhaupt" ebenfalls eine Funktion ist. Ich habe Pflichten,
die
ich mir manchmal auch selbst auferlege. Es ist jedenfalls
nicht jene Zeit zum Ausruhen, nach der ich mich so gesehnt
habe.»
Wäre der junge Vaclav Havel mit dem älteren Vaclav Havel zufrieden?
Havel: «Vermutlich mehr als der ältere mit dem jüngeren.»
Würden Sie die Deutschen heute als Freunde Ihres Landes
bezeichnen?
Die Beziehungen zum großen Nachbarn waren doch selten
einfach.
Havel: «Nie in der Geschichte war unser Verhältnis so gut wie
jetzt. Aber ich werde mich jetzt - Entschuldigung - etwas in die
deutschen
Angelegenheiten einmischen. Die Polen sind sehr sensibel, und
die Gasleitungen zwischen Deutschland und Russland um Polen herum -
ich
weiß nicht, vielleicht gibt es dafür strategische oder
finanzielle Gründe - sorgen sicher nicht für Ruhe in Polen. Man
sollte jedenfalls
im Interesse aller nicht übersehen, dass es zwischen
Deutschland und Russland ein Land namens Polen gibt.»
Sie sprechen sich für die umstrittene Stationierung eines
US-Radars in Böhmen aus. Soll die Anwesenheit von US-Soldaten für
Tschechien
auch ein Stabilitätsfaktor zwischen Deutschland und Russland
sein?
Havel: «Erstens ist das Radar eine Sicherheitsmaßnahme vor allem
für die USA, aber auch für Europa. Technisch und psychologisch.
Hier darf
man keine Zugeständnisse an Russland machen, das wäre das
Schlimmste. Denn Russland ist der Meinung: "Wo wir einmal waren und
nicht mehr
sind, sollten wir trotzdem sein." Alles hält Moskau für "halb
unser". Das Problem ist, dass Russland nie wusste, wo es anfängt
und endet.
Und wenn eine unscharfe Grenze existiert, kann daraus etwas
Übles entstehen. Denn Kriege führt man in der Regel um eine Grenze.
Die
heutige Macht in Moskau kann sich schwer abfinden, dass im
ehemaligen Warschauer Pakt ein System existieren soll, dass die
andere Großmacht
aufbauen will. Das ist aber eine Denkweise, die aus der Zeit
der bipolaren Welt stammt und die man ablehnen muss. Man hat doch
nicht
den eisernen Vorhang abgebaut, um jetzt einen anderen
aufzubauen, der sich auf Öllieferungen stützt.»
Was sind die Lehren aus dem 11. September 2001?
Havel: «Es ist etwas, das uns erneut auf die Doppelsinnigkeit
unserer Zivilisation aufmerksam macht. Wir sind zum Beispiel in der
Lage,
schneller Waffen zu entwickeln, als sich unsere Verantwortung
im Umgang mit diesen Waffen entwickelt. Wir sind im Stande,
perfekte
Mittel zur Selbstzerstörung zu bauen, aber unsere
Verantwortung ist bei weitem nicht so weit entwickelt wie diese
Erfindungskapazität.
Ich meine damit nicht nur ein Flugzeug, mit dem man in einen
Wolkenkratzer fliegen kann. Ich meine damit auch das Fernsehen.
Ohne
Massenmedien würde man nie erfahren, dass in einem Dorf ein
Anschlag verübt wurde. Und da frage ich mich, ob es diesen Anschlag
ohne
Medialität überhaupt gegeben hätte. Der Terrorismus ist auch
eine neue Warnung der Menschheit vor sich selbst.»
Was bleibt zu tun?
Havel: «Wenn ich über Terrorismus spreche, meine ich nicht nur
den individuellen Terror, bei dem sich ein Fanatiker in die Luft
sprengt.
Ich meine auch den Staatsterrorismus, bei dem
Diktatorenregime die Pläne von Atombomben kopieren und sich
gegenseitig mit Komponenten
beliefern. Das ist für mich eine noch schrecklichere
Variante. Und wenn dann jemand über die "Achse des Bösen" spricht,
wird er
ausgelacht, dass er die Dinge vereinfacht. Ich hingegen habe
Verständnis für eine solche Formulierung.»
US-Präsident George W. Bush sagte jüngst bei einem Besuch in
Prag, freie Staaten hätten nahezu eine Pflicht zur Verbreitung von
Demokratie. Teilen Sie diese Meinung?
Havel: «Wissen Sie, das ist ein wenig komplizierter. Wir alle
tragen Mitverantwortung für die Situation in der Welt, aber in
einem
unterschiedlichen Umfang. Die Menschheit kann wohl nur
überleben, wenn es ein maximales Maß an Solidarität, Rücksicht und
gegenseitige
Unterstützung gibt. Das Wichtigste dabei ist, nicht
gleichgültig zu bleiben, wenn irgendwo auf der Welt Menschenrechte
verletzt werden.»
Die Menschenrechte oder die Demokratie?
Havel: «Ich würde nicht direkt "Demokratie" sagen. Nicht überall
auf der Welt ist man die Demokratie des amerikanischen oder
europäischen
Stils gewöhnt. Ich würde eher Menschenrechte sagen und
unbedingt auch Menschenwürde. Sie ist sogar noch sensibler, weil
sie von jedem
Menschen wahrgenommen werden kann. Aber man muss immer von
Fall zu Fall entscheiden. Man darf nicht automatisch Muster
entwickeln und
irgendwo einmarschieren, wo uns etwas nicht gefällt, und dort
Dinge verbessern wollen. Obwohl das manchmal richtig sein
kann.»
Spielt Europa heute die Rolle, die Sie erhofft haben, oder hat Amerika zu viel Einfluss?
Havel: «Ich habe keine Angst vor dem Einfluss eines anderen
Staates. Angst ist der erste Schritt zur Unterwerfung. Europa
sollte an sich
selbst arbeiten, sollte zu einem Vorbild, zu einer
Inspiration für die Welt werden. Hier können viele Völker so eng
miteinander leben,
dass sie koexistieren und nicht nur wirtschaftlich
kooperieren. Europa könnte der Welt zeigen, dass es die Umwelt
achtet und sich
nicht nur an materiellen Werten orientiert. Es sollte dies
aber nicht wie in der Vergangenheit mit Kolonisierung
exportieren.»
Wir sind vermutlich die erste Zivilisation, die ihr Handeln in
solch großem Maß reflektieren kann. Warum bewegen wir uns trotzdem
in eine
gefährliche Richtung?
Havel: «Wahrscheinlich liegt das im Wesen unserer gegenwärtigen
Zivilisation, die auf den Rationalismus aufbaut. Das ist ein Kult
der
Wissenschaft, ein absolutes Vertrauen in das Materielle. Was
man berechnen kann, besitzt Priorität. Denn wir können zwar alle
Bedrohungen definieren, sind auf der anderen Seite aber
scheinbar nicht in der Lage, unser Handeln, das zu diesen
Bedrohungen führen
kann, zu ändern. Es ist wie eine automatische Selbstbewegung,
die man ständig kommentiert, aber die man - und das ist paradox -
nicht
ändert. Zu einer Korrektur müsste man nicht so sehr die
politischen Umstände ändern, sondern vielmehr das eigene
Selbstverständnis.»
Ist nicht trotzdem die zunehmende Technokratie unserer Demokratien auch ein Grund für die Krise der Zivilisation?
Havel: «Zweifellos. Die politische Macht wird immer
technokratischer, obwohl man in allen möglichen
Programmerklärungen, Manifesten und
Reden hört oder liest, dass der Glaube an moralische und
geistige Werte angeblich existiert. Trotzdem orientiert man sich am
Materiellen. Alles soll schnell, messbar und fortschrittlich
sein.Oft ist das kontraproduktiv, weil man nur kurzfristige Ziele
verfolgt. Die langfristige Perspektive bleibt leider
übersehen.»
Studien in postkommunistischen Ländern besagen, dass dort viele
Menschen von der Verantwortung, die Freiheit mit sich bringt,
überfordert sind. Wie sollten Staat und Gesellschaft
reagieren?
Havel: «Die Jahrzehnte der Totalität waren eine Bremse in der
Selbsterkennung der Gesellschaft. Wir wurden demoralisiert. Deshalb
ist hier heute alles viel komplizierter als in Ländern mit
einer sich kontinuierlich entwickelnden Demokratie. Aber ich glaube
nicht, dass
dieser Teil der Welt ein für alle Mal zum Nachhinken
verurteilt ist. Neue Generationen wachsen heran, die Demokratie
wird stabiler, immer
mehr Menschen machen sich die neuen Freiheiten zu eigen.
Überraschend ist, dass die postkommunistischen Länder, die der EU
und NATO
beigetreten sind, eine Welle der Xenophobie (Fremdenangst)
und des Nationalismus erleben. Das ist gefährlich. Aber diese Phase
müssen
wir durchgehen wie einen Tunnel. Die Entwicklung ist
unumkehrbar.»
Interview: Wolfgang Jung, dpa
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