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dpa: «Wir wurden demoralisiert»

Tschechiens Saatspräsident a.D. Václav Havel zieht Bilanz für die Deutsche Presse-Agentur und warnt: «Deutschland darf Polen nicht vergessen». Erschienen am 25.10.2007.

Präsident Václav HavelTschechiens Saatspräsident a.D. Václav Havel zieht im Interview für die Deutsche Presse-Agentur eine Bilanz und warnt: «Deutschland darf Polen nicht vergessen» (dpa-Interview - Wortlaut)

Prag (dpa) - Vom Staatsfeind Nummer Eins zum Märchenprinz der Samtenen Revolution: Rund 13 Jahre lang, von Dezember 1989 bis Februar 2003, lenkte der tschechische Dramatiker Vaclav Havel als «Dichterpräsident» die Geschicke seines Landes. Davor saß der am 5. Oktober 1936 geborene Prager als Gegner des sozialistischen Regimes rund fünf Jahre im Gefängnis und wurde parallel mit Theaterstücken wie «Die Vanek-Trilogie» international bekannt. Noch immer gilt er als moralische Instanz. In einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur dpa spricht Havel über sein Verhältnis zu Deutschland sowie über Menschenrechte und die Lehren aus dem 11. September 2001.

Interview mit dem Staatspräsidenten der Tschechischen Republik a.D. Václav Havel führte Wolfgang Jung. , erschienen in der Deutschen Presse Agentur am 25.10. 2007.


Sie fragen sich in Ihrer jüngst veröffentlichten Autobiografie «Fassen Sie sich bitte kurz», ob Sie Ihr Leben «gewonnen oder
verloren» haben. Wie ist der Stand am heutigen Tag?

Havel: «Schwer zu sagen. Einerseits wurde ich durch die Bewegungen der Geschichte in interessante Situationen geworfen und hatte die
Möglichkeit, das Geschehen auf der Welt zu beeinflussen. Das war ein großes Geschenk. Vor allem, weil es meistens zu einem guten Ende
geführt hat. Andererseits gibt es tausend Dinge, mit denen ich wohl nie zufrieden sein werde. Aber diese Zweifel kennt wohl jeder. Das
ist auf der anderen Seite ein Motor zu einer besseren Leistung.»

Ist die «Nach-Präsidentenzeit» so, wie Sie es sich vorgestellt haben?

Havel: «Leider nein. Es hat sich gezeigt, dass "Ehemaliges Staatsoberhaupt" ebenfalls eine Funktion ist. Ich habe Pflichten, die
ich mir manchmal auch selbst auferlege. Es ist jedenfalls nicht jene Zeit zum Ausruhen, nach der ich mich so gesehnt habe.»

Wäre der junge Vaclav Havel mit dem älteren Vaclav Havel zufrieden?

Havel: «Vermutlich mehr als der ältere mit dem jüngeren.»

Würden Sie die Deutschen heute als Freunde Ihres Landes bezeichnen?
Die Beziehungen zum großen Nachbarn waren doch selten einfach.

Havel: «Nie in der Geschichte war unser Verhältnis so gut wie jetzt. Aber ich werde mich jetzt - Entschuldigung - etwas in die deutschen
Angelegenheiten einmischen. Die Polen sind sehr sensibel, und die Gasleitungen zwischen Deutschland und Russland um Polen herum - ich
weiß nicht, vielleicht gibt es dafür strategische oder finanzielle Gründe - sorgen sicher nicht für Ruhe in Polen. Man sollte jedenfalls
im Interesse aller nicht übersehen, dass es zwischen Deutschland und Russland ein Land namens Polen gibt.»

Sie sprechen sich für die umstrittene Stationierung eines US-Radars in Böhmen aus. Soll die Anwesenheit von US-Soldaten für Tschechien
auch ein Stabilitätsfaktor zwischen Deutschland und Russland sein?

Havel: «Erstens ist das Radar eine Sicherheitsmaßnahme vor allem für die USA, aber auch für Europa. Technisch und psychologisch. Hier darf
man keine Zugeständnisse an Russland machen, das wäre das Schlimmste. Denn Russland ist der Meinung: "Wo wir einmal waren und nicht mehr
sind, sollten wir trotzdem sein." Alles hält Moskau für "halb unser". Das Problem ist, dass Russland nie wusste, wo es anfängt und endet.
Und wenn eine unscharfe Grenze existiert, kann daraus etwas Übles entstehen. Denn Kriege führt man in der Regel um eine Grenze. Die
heutige Macht in Moskau kann sich schwer abfinden, dass im ehemaligen Warschauer Pakt ein System existieren soll, dass die andere Großmacht
aufbauen will. Das ist aber eine Denkweise, die aus der Zeit der bipolaren Welt stammt und die man ablehnen muss. Man hat doch nicht
den eisernen Vorhang abgebaut, um jetzt einen anderen aufzubauen, der sich auf Öllieferungen stützt.»

Was sind die Lehren aus dem 11. September 2001?

Havel: «Es ist etwas, das uns erneut auf die Doppelsinnigkeit unserer Zivilisation aufmerksam macht. Wir sind zum Beispiel in der Lage,
schneller Waffen zu entwickeln, als sich unsere Verantwortung im Umgang mit diesen Waffen entwickelt. Wir sind im Stande, perfekte
Mittel zur Selbstzerstörung zu bauen, aber unsere Verantwortung ist bei weitem nicht so weit entwickelt wie diese Erfindungskapazität.
Ich meine damit nicht nur ein Flugzeug, mit dem man in einen Wolkenkratzer fliegen kann. Ich meine damit auch das Fernsehen. Ohne
Massenmedien würde man nie erfahren, dass in einem Dorf ein Anschlag verübt wurde. Und da frage ich mich, ob es diesen Anschlag ohne
Medialität überhaupt gegeben hätte. Der Terrorismus ist auch eine neue Warnung der Menschheit vor sich selbst.»

Was bleibt zu tun?

Havel: «Wenn ich über Terrorismus spreche, meine ich nicht nur den individuellen Terror, bei dem sich ein Fanatiker in die Luft sprengt.
Ich meine auch den Staatsterrorismus, bei dem Diktatorenregime die Pläne von Atombomben kopieren und sich gegenseitig mit Komponenten
beliefern. Das ist für mich eine noch schrecklichere Variante. Und wenn dann jemand über die "Achse des Bösen" spricht, wird er
ausgelacht, dass er die Dinge vereinfacht. Ich hingegen habe Verständnis für eine solche Formulierung.»

US-Präsident George W. Bush sagte jüngst bei einem Besuch in Prag, freie Staaten hätten nahezu eine Pflicht zur Verbreitung von
Demokratie. Teilen Sie diese Meinung?

Havel: «Wissen Sie, das ist ein wenig komplizierter. Wir alle tragen Mitverantwortung für die Situation in der Welt, aber in einem
unterschiedlichen Umfang. Die Menschheit kann wohl nur überleben, wenn es ein maximales Maß an Solidarität, Rücksicht und gegenseitige
Unterstützung gibt. Das Wichtigste dabei ist, nicht gleichgültig zu bleiben, wenn irgendwo auf der Welt Menschenrechte verletzt werden.»

Die Menschenrechte oder die Demokratie?

Havel: «Ich würde nicht direkt "Demokratie" sagen. Nicht überall auf der Welt ist man die Demokratie des amerikanischen oder europäischen
Stils gewöhnt. Ich würde eher Menschenrechte sagen und unbedingt auch Menschenwürde. Sie ist sogar noch sensibler, weil sie von jedem
Menschen wahrgenommen werden kann. Aber man muss immer von Fall zu Fall entscheiden. Man darf nicht automatisch Muster entwickeln und
irgendwo einmarschieren, wo uns etwas nicht gefällt, und dort Dinge verbessern wollen. Obwohl das manchmal richtig sein kann.»

Spielt Europa heute die Rolle, die Sie erhofft haben, oder hat Amerika zu viel Einfluss?

Havel: «Ich habe keine Angst vor dem Einfluss eines anderen Staates. Angst ist der erste Schritt zur Unterwerfung. Europa sollte an sich
selbst arbeiten, sollte zu einem Vorbild, zu einer Inspiration für die Welt werden. Hier können viele Völker so eng miteinander leben,
dass sie koexistieren und nicht nur wirtschaftlich kooperieren. Europa könnte der Welt zeigen, dass es die Umwelt achtet und sich
nicht nur an materiellen Werten orientiert. Es sollte dies aber nicht wie in der Vergangenheit mit Kolonisierung exportieren.»

Wir sind vermutlich die erste Zivilisation, die ihr Handeln in solch großem Maß reflektieren kann. Warum bewegen wir uns trotzdem in eine
gefährliche Richtung?

Havel: «Wahrscheinlich liegt das im Wesen unserer gegenwärtigen Zivilisation, die auf den Rationalismus aufbaut. Das ist ein Kult der
Wissenschaft, ein absolutes Vertrauen in das Materielle. Was man berechnen kann, besitzt Priorität. Denn wir können zwar alle
Bedrohungen definieren, sind auf der anderen Seite aber scheinbar nicht in der Lage, unser Handeln, das zu diesen Bedrohungen führen
kann, zu ändern. Es ist wie eine automatische Selbstbewegung, die man ständig kommentiert, aber die man - und das ist paradox - nicht
ändert. Zu einer Korrektur müsste man nicht so sehr die politischen Umstände ändern, sondern vielmehr das eigene Selbstverständnis.»

Ist nicht trotzdem die zunehmende Technokratie unserer Demokratien auch ein Grund für die Krise der Zivilisation?

Havel: «Zweifellos. Die politische Macht wird immer technokratischer, obwohl man in allen möglichen Programmerklärungen, Manifesten und
Reden hört oder liest, dass der Glaube an moralische und geistige Werte angeblich existiert. Trotzdem orientiert man sich am
Materiellen. Alles soll schnell, messbar und fortschrittlich sein.Oft ist das kontraproduktiv, weil man nur kurzfristige Ziele
verfolgt. Die langfristige Perspektive bleibt leider übersehen.»

Studien in postkommunistischen Ländern besagen, dass dort viele Menschen von der Verantwortung, die Freiheit mit sich bringt,
überfordert sind. Wie sollten Staat und Gesellschaft reagieren?

Havel: «Die Jahrzehnte der Totalität waren eine Bremse in der Selbsterkennung der Gesellschaft. Wir wurden demoralisiert. Deshalb
ist hier heute alles viel komplizierter als in Ländern mit einer sich kontinuierlich entwickelnden Demokratie. Aber ich glaube nicht, dass
dieser Teil der Welt ein für alle Mal zum Nachhinken verurteilt ist. Neue Generationen wachsen heran, die Demokratie wird stabiler, immer
mehr Menschen machen sich die neuen Freiheiten zu eigen. Überraschend ist, dass die postkommunistischen Länder, die der EU und NATO
beigetreten sind, eine Welle der Xenophobie (Fremdenangst) und des Nationalismus erleben. Das ist gefährlich. Aber diese Phase müssen
wir durchgehen wie einen Tunnel. Die Entwicklung ist unumkehrbar.»

Interview: Wolfgang Jung, dpa